Kontroverse Themen gab es schon immer — selten zuvor dürften aber an einer politischen Frage so viele Freundschaften zerbrochen sein wie an „Corona“. Das mag auch daran liegen, dass es hier immer — jedenfalls in der Fantasie vieler Menschen — um Leben und Tod geht. Die Lockdown-Maßnahmen der Regierung abzulehnen, kann einem schon mal den Vorwurf des beabsichtigten Mordes einbringen. Andererseits werden Corona-Linientreue nicht selten als Mitläufer einer sich anbahnenden Diktatur beschimpft. Das Fatale ist jedoch nicht, dass sich viele in diesem Dilemma auf die Seite der „Lebensschützer“ stellen; unser derzeitiger öffentlicher Diskurs krankt vielmehr daran, dass vielfach der Eindruck erweckt wird, es gebe gar kein ethisches Dilemma. „Wir verhindern Tode und verlängern Leben — was wäre ernsthaft dagegen einzuwenden?“ Ethisches Handeln könnte aber zum Beispiel durchaus auch beinhalten, dass man alte Menschen selbstbestimmt sterben lässt — in Begleitung der Menschen, die sie sich an ihrer Seite wünschen. Wir erleben derzeit einen sehr selektiven, eigentlich halbierten Moralismus, der wesentliche relevante Faktoren ausblendet und mit überschießender Entrüstungsenergie aufgeladen ist. Es wird Zeit, sich das Für und Wider sachlich, jedoch auch mitfühlend vor Augen zu führen.